Als ehemalige, am 1. Juli 1997 an die Volksrepublik China zurückgegebene, britische Kolonie unterscheidet sich Hongkong in vielfacher Weise von China. Im Rahmen des vom chinesischen Führers Deng Xiaoping formulierten verfassungsmässigen Prinzips “Ein Land, zwei Systeme” und basierend auf Artikel 5 des Hongkonger Grundgesetzes ist die chinesische Sonderverwaltungszone bezüglich seiner internen Angelegenheiten für die 50 Jahre nach seiner Rückgabe an China, also bis 2047, weitgehend autonom. Dieses Selbstbestimmungsrecht umfasst nicht nur die Gesetzgebung, welche auf demokratisch-marktwirtschaftlichen Grundlagen beruhen kann, sondern auch das Erheben von Zöllen und die Ausgabe einer eigenen Währung. Auch der Personenverkehr zwischen Hongkong und China ist nicht frei. Festland-Chinesen, welche nach Hongkong ziehen, gelten als Migranten. Sie benötigen ein Visum oder eine Genehmigung um in der Sonderverwaltungszone zu arbeiten, zu studieren, ein Unternehmen zu gründen oder sich niederzulassen. Aussenpolitisch vertritt sich Hongkong in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Aussenhandel und Kultur selber und ist damit weiterhin ein eigenständiges Mitglied bei der Welthandelsorganisation, der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Asiatischen Entwicklungsbank und dem Financial Stability Board. Für die restliche Aussen- und für die Verteidigungspolitik ist jedoch die chinesische Zentralregierung zuständig.
Die seit März 2019 anhaltenden Proteste haben zwar einen anderen politischen Auslöser, knüpfen ideologisch jedoch an den Protesten von 2014 an. Am Anfang der erneuten Proteste steht ein von Lam eingebrachtes Auslieferungsgesetz über flüchtige Straftäter und Rechtshilfe in Strafsachen. Nicht nur unterscheiden sich die Strafverfolgung und das juristische System Hongkongs von demjenigen Chinas massgeblich, es ist auch eine der Bereiche in denen Hongkong autonom ist. Wegen den offensichtlichen Unterschieden schlug bereits im Juni 1987 die Special Group on Law of the Hongkong Basic Law Consultative Committee das Territorialprinzip vor. Das angewendete Strafverfolgungs- bzw. Justizsystem ist damit vom Ort der Tat abhängig, und nicht ob es sich beim Täter um einen Chinesen vom Festland oder aus Hongkong handelt. Eine dementsprechende gesetzliche Regelung fehlt jedoch bis dato. Dies führte 2018 zu einer Kontroverse, als ein Bürger aus Hongkong am Mord seiner Freundin in Taiwan bezichtigt wurde. Da es keine Auslieferungsmechanismen zwischen Hongkong und dem chinesischen Festland, Macau oder Taiwan gibt, kann der Verdächtige nicht nach Taiwan ausgeliefert werden (Daniel Victor and Tiffany May, “The Murder Case That Lit the Fuse in Hong Kong“, The New York Times, 15.06.2019). Das im Februar 2019 von Lam eingebrachte Auslieferungsgesetz soll diese gesetzliche Lücke hinsichtlich Festlandchina, Macau und Taiwan schliessen. Die Gegner dieses Gesetzes argumentieren, dass es langfristig die Möglichkeit schaffe nicht nur Straftäter, sondern auch andere der chinesischen Zentralregierung unangenehme Hongkonger Bürger und Ausländer zum Prozess nach Festlandchina auszuliefern.

Das chinesische Staatswappen in der Ständigen Vertretung Pekings in Hongkong wurde nach einem weitgehend friedlichen Marsch am 21. Juli 2019 mit schwarzer Farbe beschmiert.
Zusätzlich sind die Freiheitsrechte in Hongkong seit den Unruhen von 2014 zunehmend am Erodieren. Ende 2015 sind beispielsweise fünf Buchhändler spurlos verschwunden, weil sie Bücher verkauft hatten, welche in Festland-China verboten sind (Ben Bland, “Hongkong: Beijing Opens a New Chapter“, Financial Times, 27.01.2016). Im Juli 2017 wurden vier pro-demokratische Politiker aus dem Legislativrat gedrängt, weil sie ihren Eid nicht richtig abgelegt hätten und zwei weitere, weil sie ein von China unabhängiges Hongkong befürworten würden. Der Entscheid des höchsten Hongkonger Gerichtes wurde von Lam ausdrücklich begrüsst (Ben Bland, “Hongkong Shaken by Removal of Pro-Democracy Lawmakers“, Financial Times, 14.07.2017). Im September 2018 wurde die Hongkong National Party wegen ihrer Forderung der Unabhängigkeit Hongkongs verboten. Zunehmend werden auch Kritiker ins Fadenkreuz genommen, so beispielsweise Victor Mallet, Asien-Redakteur der Financial Times mit Sitz in Hongkong, wo er mit seiner Familie lebte, bis ihm im Oktober 2018 eine Erneuerung seines Visums abgelehnt wurde. Dies erklärt, weshalb im Vergleich zu 2014 nicht nur mehr Menschen sich den Demonstrationen anschliessen, sondern dass sie auch aus verschiedensten Bevölkerungsschichten stammen.

Source: Nectar Gan and Kristin Huang, “Will China Send in the Troops to Stamp out Protests in Hong Kong?“, South China Morning Post, 24.07.2019.
Gesetzlich ist eine Einmischung der PLA in die lokalen Angelegenheiten gemäss Artikel 14 des Hongkonger Grundgesetzes nur auf Ersuchen der Hongkonger Regierung vorgesehen, oder wenn sie gemäss Artikel 18 die Kontrolle über die innere Sicherheit verliert. Mit den mehr als 1’300 internationalen Unternehmen, welche ihren regionalen Sitz in Hongkong haben, sowie der Tatsache, dass Hongkong der viertgrösste Aktienhandelsplatz und der achtgrösste Exporteur der Welt ist, wird eine militärische Intervention Pekings eher unwahrscheinlich (Matthias Kamp und Michael Settelen, “Hongkongs Wirtschaft vor unsicheren Zeiten“, Neue Zürcher Zeitung, 30.07.3019, S. 19). Jude Blanchette, Freeman Chair in China Studies am Center for Strategic and International Studies, ist jedoch der Meinung, dass solche Annahmen falsch seien. Sie würden die Art und Weise ignorieren, wie die Kommunistische Partei Chinas historische Ereignisse sieht und wie sie Entscheidungen treffe:
Looking at China’s own recent history, from the CCP’s perspective the lesson of Tiananmen Square was not that the use of tanks and PLA troops to subdue the Chinese people was a mistake. Rather, Deng Xiaoping and the party elders believed that the price was justified in order to stave off an even greater catastrophe. As Deng said in his first speech after the June 4 crackdown, “The nature of the incident should have been obvious from the very beginning. The handful of bad people had two basic slogans: overthrow the Communist Party and demolish the socialist system.” — Jude Blanchette, “How Close Is Hong Kong to a Second Tiananmen?“, Foreign Policy, 14.08.2019.
Die Frage bleibt, wie weit die Demonstranten gehen können, um dieses Mal wenigsten einen Teil ihrer Forderungen — (1) die vollständige Rücknahme des Auslieferungsgesetzes, (2) die negative Charakterisierung der Proteste, (4) die Freilassung und Entlastung verhafteter Demonstranten, (3) die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission für polizeiliches Verhalten und Gewaltanwendung während der Proteste, (5) der Rücktritt von Lam und die Durchführung des allgemeinen Wahlrechts für die Wahlen zum Legislativrat und zum Regierungschef — durchsetzen zu können, jedoch gleichzeitig keine rote Linien zu überschreiten. Laut einem Bericht von Reuters scheint es, dass die Regierung von Hongkong kompromissbereit wäre, jedoch Peking einen solchen Kompromiss unterbindet. Gleichzeitig sind die roten Linien Pekings nicht klar definiert. Gemäss dem Sprecher für das Büro für die Angelegenheiten Hongkongs und Macaus in Peking, Yang Guang, dürfe erstens die nationale Sicherheit nicht gefährdet werden, zweitens die Demonstranten weder die Autorität der Zentralregierung noch jene des Grundgesetzes herausfordern und drittens dürfe Hongkong nicht als Basis missbraucht werden, China zu unterwandern (Patrick Zoll, “Drei Fragen und Antworten zu der Situation in Hongkong“, Neue Zürcher Zeitung, 01.08.2019).

Demokratie-Aktivist Joshua Wong spricht im Juni 2017 während einer Demonstration mit der Presse. (Foto: Thomas Peter).
Die Verhaftungen von Joshua Wong, Agnes Chow, Andy Chan und anderen regierungsfeindlichen oder prodemokratischen Führern sind ein Zeichen dafür, dass die Regierung Hongkongs unter dem Druck Pekings nun eine härtere Linie verfolgen könnte. Es zeigt aber auch, dass die chinesische Zentralregierung noch keine direkte Intervention in Betracht zieht. Es ist unwahrscheinlich, dass die Verhaftungen die Demonstrationsbewegung langfristig schwächen werden, denn im Gegensatz zu 2014 haben die aktuellen Proteste keine klaren Führungsstrukturen. (Patrick Zoll, “Die Verhaftungen in Hongkong sind symbolisch – und ihre harte Linie fährt die Regierung offenbar auf Wunsch Pekings“, Neue Zürcher Zeitung, 31.08.2019).
Werden die Demonstranten dieses Mal mehr erreichen als in 2014? Kaum! Im besten Fall wird das Auslieferungsgesetz komplett zurückgezogen und eine unabhängigen Kommission zur Untersuchung des Polizeieinsatzes während den Demonstrationen eingesetzt, welche kaum irgendwelche Unregelmässigkeiten feststellen wird. Die Demonstranten würden damit zwar mehr als in 2014 erreichen, die weitere Erosion der Freiheitsrechte jedoch kaum aufhalten, geschweige denn ein Ausbau der demokratischen Prinzipien erzielen. Die chinesische Integration Hongkongs wird ungehindert fortschreiten, jedenfalls solange, wie es keine erheblichen negativen Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort haben wird. Zwar ist eine militärische Intervention eher unwahrscheinlich, jedoch bei einer weiteren Eskalation auch nicht vollkommen auszuschliessen. Es ist eher davon auszugehen, dass die Aktivisten, wie 2014, langfristig an breiter Unterstützung verlieren werden und damit die Dynamik der Protestbewegung tendenziell abnehmen wird.
Update vom 05.09.2019
Lam hat im Fernsehen verkündet, sie werde das Auslieferungsgesetz formal zurückziehen. Sie kommt damit zumindest einer von fünf Forderungen der Demonstranten nach.
Weitere Quellen
Patrick Zoll, “China zieht in Hongkong rote Linien“, Neue Zürcher Zeitung, 30.07.2019.